Reflektionen zur unvollständigen Dokumentation von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit bei stationären psychiatrischen Behandlungen von Erwachsenen

Author(s):  
Eva Neumann ◽  
Georg Juckel ◽  
Ida Sibylle Haußleiter

ZusammenfassungEs ist gut belegt, dass Kindesmisshandlung mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter zusammenhängt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, darüber zu reflektieren, ob diese negativen Erfahrungen in der psychiatrischen Praxis angemessen berücksichtigt werden. Die medizinischen Akten von 3680 stationär behandelten erwachsenen Patienten einer psychiatrischen Klinik wurden analysiert in Bezug auf Einträge, die sich auf Erfahrungen von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit beziehen. Patienten mit der Diagnose einer Störung durch psychotrope Substanzen, einer schizophrenen oder einer affektiven Störung wurden in dieser Arbeit betrachtet. Einträge, die sich auf traumatische Erfahrungen beziehen, wurden nach der Unterteilung in emotionalen, körperlichen und sexuellen Missbrauch sowie emotionale und körperliche Vernachlässigung klassifiziert. Nur in 6% der Fälle fanden sich Hinweise auf traumatische Erfahrungen in der Kindheit in den Akten. Die drei Arten von Missbrauch wurden am häufigsten dokumentiert, während sich nur wenige Einträge zu emotionaler und körperlicher Vernachlässigung fanden. Frühere Arbeiten legen allerdings nahe, dass die Häufigkeit von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit bei psychiatrischen Patienten deutlich höher ist als die Häufigkeit, die hier anhand der Akteneiträge ermittelt wurde. Diese negativen Kindheitserfahrungen wurden in den psychiatrischen Behandlungen offenbar wenig beachtet. Wegen ihrer Relevanz für das Verständnis psychischer Störungen empfehlen wir, sie in strukturierter Weise zu erfassen, entweder mit standardisierten Fragebögen oder mit Screening-Fragen in der Eingangsuntersuchung.

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