Georg Heym: Versuch einer neuen Religion (1909). Mit einem Blick auf Hölderlin (Über Religion, Ältestes Systemprogramm)*

2021 ◽  
Vol 41 (3) ◽  
pp. 225-238
Author(s):  
Wolfgang Braungart

Ohne Zweifel ist dies eine der ganz großen Fragen unserer Zeit: Was hält die Gesellschaft zusammen? Möglichst große Diversität ist ja wunderbar; aber wenn sie zum Kult wird, wird es schwierig. Nur noch ,,Singularitäten“: Das geht nicht gut und zerstört jede Gesellschaft.1 Wie können wir uns als zusammengehörig begreifen und auch erfahren über alle inneren Differenzierungen der Gesellschaft hinweg – und erst recht der Welt-Gesellschaft? Denn Gesellschaft ist nun einmal nicht Gemeinschaft, und sie wird auch nicht mehr zu einer solchen werden. Diese sozialkonservative Position ist Ideologie. Aber es kann geschichtliche Konstellationen geben, in denen eine sich in sozio-kulturelle Milieus und Funktionssysteme differenzierende, immer komplexer werdende Gesellschaft das Gemeinschaftliche dann doch (wieder-)entdecken muss – wie derzeit in der Corona-Pandemie und der nur noch von ganz Hartleibigen bestreitbaren Klima-Katastrophe. Bedenkt man dies, wird vielleicht auch ein an sich ziemlich bescheidener Text wie Georg Heyms Versuch einer neuen Religion interessanter, als es auf den ersten Blick scheinen mag.2 Denn diese Frage, was eine Gesellschaft zusammenhalten könnte, die auch Heyms Frage ist, wurde schon gestellt, als man die Dynamik kultureller und sozialer Differenzierungsprozesse erst zu ahnen und die Bedeutung dessen, was man bald ,Entfremdung‘ nennt, zu erkennen beginnt: am Beginn der Moderne, also nach 1789.

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