»Es müsste so sein, dass man einstens erzählen kann, wie die Juden […] zu Predigern des Friedens unter den Menschen wurden.« Die deutsch-jüdische Predigt im Ersten Weltkrieg – Max Dienemann und Moritz Güdemann
Die Wahrnehmung, Deutung und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der deutsch-jüdischen Kultur ist noch nicht ausreichend und schlüssig analysiert, was angesichts der Schlüsselrolle, die der »Große Krieg« in den ideologischen Kämpfen der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus spielte, erstaunlich ist. Insbesondere wissen wir wenig darüber, wie die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts religiös erlebt, gedeutet und verarbeitet wurde. Die anfänglich rein politikgeschichtliche Perspektive, unter der der Erste Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Historiographie betrachtet wurde, ist zwar durch die Perspektive des deutsch-jüdischen Verhältnisses und der gesellschaftlichen Situation der Juden erweitert worden, kulturhistorische Fragestellungen, die das System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen Wirklichkeit erfahren, definieren, beschreiben und gestalten, werden aber nach wie vor fast gänzlich außer acht gelassen. Die Bedeutung des Krieges für das deutsche Judentum wird in der »grausamen Desillusionierung« der mit ihm verbundenen Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz gesehen. Dass mit der vorausgehenden Illusion eine kulturelle Deutung des Krieges verbunden war, die in ihrer Bedeutung für Selbstverständnis, Identität und Mentalität und die hieraus erwachsende Sicht auf die eigene kulturelle und gesellschaftliche Rolle kaum zu überschätzen ist, wird dabei nicht beachtet.