»Es müsste so sein, dass man einstens erzählen kann, wie die Juden […] zu Predigern des Friedens unter den Menschen wurden.« Die deutsch-jüdische Predigt im Ersten Weltkrieg – Max Dienemann und Moritz Güdemann

Aschkenas ◽  
2007 ◽  
Vol 16 (1) ◽  
pp. 77-101
Author(s):  
Margit Schad

Die Wahrnehmung, Deutung und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der deutsch-jüdischen Kultur ist noch nicht ausreichend und schlüssig analysiert, was angesichts der Schlüsselrolle, die der »Große Krieg« in den ideologischen Kämpfen der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus spielte, erstaunlich ist. Insbesondere wissen wir wenig darüber, wie die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts religiös erlebt, gedeutet und verarbeitet wurde. Die anfänglich rein politikgeschichtliche Perspektive, unter der der Erste Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Historiographie betrachtet wurde, ist zwar durch die Perspektive des deutsch-jüdischen Verhältnisses und der gesellschaftlichen Situation der Juden erweitert worden, kulturhistorische Fragestellungen, die das System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen Wirklichkeit erfahren, definieren, beschreiben und gestalten, werden aber nach wie vor fast gänzlich außer acht gelassen. Die Bedeutung des Krieges für das deutsche Judentum wird in der »grausamen Desillusionierung« der mit ihm verbundenen Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz gesehen. Dass mit der vorausgehenden Illusion eine kulturelle Deutung des Krieges verbunden war, die in ihrer Bedeutung für Selbstverständnis, Identität und Mentalität und die hieraus erwachsende Sicht auf die eigene kulturelle und gesellschaftliche Rolle kaum zu überschätzen ist, wird dabei nicht beachtet.

2014 ◽  
Vol 37 (4) ◽  
pp. 219-234
Author(s):  
Carsten Jakobi

Im Rahmen seines großangelegten Tui-Projektes, des geplanten satirischen Romans über den Intellektuellen in der bürgerlichen Gesellschaft, formulierte Bertolt Brecht in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft – spätestens 1935 – einen skizzenhaften Abriss der Geschichte der Weimarer Republik. Wie fast das gesamte vorliegende Textmaterial des nicht ausgeführten Romanprojekts hat die Skizze fragmentarischen Entwurfscharakter, aber trotz ihrer provisorischen Form ist sie in der politischen Sache, die sie vertritt, höchst entschieden und urteilsgewiss. Am Ende des nur knapp halbseitigen Geschichtsüberblicks heißt es lapidar: ,,Die Industrie ist eine imperialistische, da Profit erzeugende, auf Militarismus angewiesene. Die unerhörte Rationalisierung wirft das Proletariat auf die Straße. Von wo es die Militärs in die Kasernen – und in die Fabriken hereinholen. Der zweite Weltkrieg steht bevor.“1 Der rhetorisch inszenierte Nachweis eines notwendigen Zusammenhanges zwischen der kapitalistischen Ökonomie, dem Ende der bürgerlichen Demokratie, dem Aufstieg des Faschismus und der Entfesselung des hier auch bereits terminologisch korrekt antizipierten Zweiten Weltkriegs ist typisch für Brechts Überzeugung, dass der Kapitalismus im Allgemeinen und der NS-Faschismus im Besonderen unausweichlich auf einen Weltkrieg zusteuerten. In dieser politischen Prognostik reaktualisiert sich die Kriegsthematik, die in Brechts gesamtem literarischen Werk geradezu eine Konstante darstellt: von seinem ersten Drama Die Bibel aus dem Jahr 1913 über die nationalistischen Kriegsgedichte des Sechzehnjährigen zu Beginn des Ersten Weltkriegs, die berühmte Legende vom toten Soldaten von 1918 bis hin zu seiner letzten Buchpublikation, der Kriegsfibel von 1955. Wie ein kurzer Überblick über die genannten Werke zeigt, ist Brechts Auffassung des Krieges alles andere als konstant, aber stets durch das Selbstbewusstsein gekennzeichnet, gültige Urteile über den Krieg zu formulieren, und dieses Selbstbewusstsein nimmt dabei mitunter, wie das Zitat aus dem Tuiroman zeigt, die Form einer zukunftsgewissen Prognose an – eine Prognostik, die sich Brecht nach 1945 auch selbst als Verdienst attestierte, oft zu Recht, wenn man an das Kapitel Deutsche Kriegsfibel der Svendborger Gedichte denkt2, zum Teil auch fälschlich, indem er etwa von seiner Mutter Courage behauptete: ,,Das Stück ist 1938 geschrieben, als der Stückeschreiber einen großen Krieg voraussah […]“3 – obwohl der Arbeitsbeginn an dem Stück tatsächlich erst vier Wochen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lag.4


2017 ◽  
Vol 40 (1) ◽  
pp. 53-72
Author(s):  
Torsten Voß

Im Jahr 1933 bezeichnet der im Pariser Exil lebende Klaus Mann seinen konservativen und in der Weimarer Republik recht erfolgreichen Dichterkollegen Rudolf Georg Binding als ,,Herrenreiter Binding“ bzw. als ,,the literary von Papen“.1 Abgesehen davon, dass die Assoziation mit dem damaligen Vizekanzler Franz von Papen, welcher auch als Steigbügelhalter Hitlers in die Geschichte einging, auf Bindings Engagement in der Reichsschrifttumskammer und sein Kokettieren mit der NS-Bewegung verweist, berühren Klaus Manns spitze Attitüden zwischen den Zeilen nicht nur die problematische politische Haltung des Autors, sondern berühren auch implizit ein wesentliches Motiv seiner Werke und Segmente von Bindings Selbstverständnis und Selbstinszenierung. Mit dem Herrenreiter-Klischee parodiert Mann einen elitären Nimbus, nämlich die militärische Männlichkeit und damit einen viril-selbstherrlichen Habitus, welcher auf Abgrenzung ausgerichtet ist und sich durch große Teile von Bindings dichterischen und autobiographischen Texten zieht.


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