Zusammenfassung
Hintergrund Noch immer gründen heutige Analysen genetischer Zwillings- und
Familienstudien auf mathematischen Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts,
namentlich von Galton, Pearson und Fisher, und führen zu konventionellen
Schätzwerten für die Heritabilität der Körperhöhe zwischen h² = 0,87 und h² =
0,93 bei Männern und zwischen h² = 0,68 und h² = 0,84 bei Frauen. Diese Werte
sind wesentlich höher als moderne Schätzungen auf der Basis genomweiter
Assoziationsstudien (GWAS), mit denen sich zwischen 12,3 % und 49 % der
Körperhöhenvarianz im Erwachsenenalter erklären lassen. Diese so genannte
„missing heritability“ gibt Anlass zu Missverständnissen.
Diskussion Wir nehmen eine biokulturelle Perspektive ein, um
Entwicklungsmerkmale zu verstehen, die nur auf den ersten Blick erblich
erscheinen. Innerhalb sozialer Gruppen dient Körpergröße als Signal. Kompetitive
Wachstumsstrategien (competitive growth strategies) und strategische
Wachstumsanpassungen (strategic growth adjustments) insbesondere im Hinblick auf
die Gefahr, aus einer führenden sozialen Rolle verdrängt zu werden (threat of
being displaced) sind bei sozialen Säugern beschrieben und spielen sehr
wahrscheinlich auch in menschlichen Sozialstrukturen eine wesentliche Rolle. Die
Körperhöhe eines Menschen hängt von der Körperhöhe anderer Mitglieder seiner
Peer Group ab. Im vergangenen Jahrhundert wurden Körperhöhentrends von bis zu 20
cm in manchen Populationen beobachtet (säkulare Trends). Dies ist Ausdruck von
phänotypischer Plastizität und war Galton, Pearson und Fisher unbekannt.
Schlussfolgerung Die beschriebene „missing heritability“ für Körperhöhe
spiegelt die Diskrepanz zwischen moderner Wissenschaft und überholten
Vermengungen von deterministischen und politischen Ideen des frühen 20.
Jahrhunderts wider.