Verzögerte Diagnose eines MYH9-assoziierten Syndroms bei einem Mann mit Azoospermie und Kinderwunsch
ZusammenfassungWir berichten über einen 46-jährigen Patienten mit einer seit 20 Jahren bestehenden Diagnose einer chronischen Immunthrombozytopenie. Die Vorstellung des Patienten in unserer Gerinnungsambulanz erfolgte zur Abklärung der Thrombozytopenie und zur Therapieempfehlung vor geplantem Eingriff zur operativen Spermatozoengewinnung bei einer nicht obstruktiven Azoospermie und Kinderwunsch. Kortikosteroide zeigten in der Vergangenheit keinen klinischen Effekt. Klinisch relevante Blutungen waren bisher nicht aufgetreten. Im Alter von 36 Jahren wurde eine Kataraktoperation durchgeführt, ferner bestand ein beginnender Hörverlust im hohen Frequenzbereich. Unsere Untersuchungen ergaben eine Plättchenzahl von 31 × 109/l, ein erhöhtes mittleres Thrombozytenvolumen (MPV 16,8 fl) und keinen Nachweis freier oder gebundener thrombozytärer Autoantikörper. Ein Bernard-Soulier-Syndrom konnte ausgeschlossen werden. Im Blutausstrich zeigten sich Einschlusskörperchen in den neutrophilen Granulozyten. Der Verdacht auf eine MYH9-assoziierte Thrombozytopenie konnte durch eine genetische Untersuchung des MYH9-Gens bestätigt werden (c.5717C>T; p.Thr1906Met [heterozygot]) und eine heterozygote Duplikation des Bereichs des Intron-Exon-Übergangs von Exon 37. Die testikuläre Spermienextraktion konnte erfolgreich mit präoperativer Gabe von Desmopressin i. v. durchgeführt werden. Dieser Fall zeigt, dass Patienten mit einer MYH9-assoziierten Thrombozytopenie als Patienten mit Immunthrombozytopenie fehldiagnostiziert werden können und es dadurch zu falschen Therapieentscheidungen kommen kann. Dabei kann die einfache Beurteilung des mittleren Thrombozytenvolumens und des Blutausstrichs bei der Diagnosefindung sehr hilfreich sein.