Der Beitrag analysiert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Lissabon-Urteil des Jahres 2009 in ihrem politischen und institutionellen Kontext. Was hat der Konflikt um die Grenzen der europäischen Integration mit der Verschärfung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Wahl- und Parlamentsrecht oder der zunehmenden Bedeutung parlamentarischer Informationsrechte zu tun? Und was beides mit der Verschärfung des Neutralitätsgrundsatzes im Parteienrecht oder der Aktivierung des Alimentationsprinzips? Der Wandel der Rechtsprechung ist, so die These des Beitrags, Teil einer grundlegenden Veränderung des politischen Systems seit dem Beginn der Großen Koalitionen im Jahr 2005. Die Tendenz zur Verdichtung und Materialisierung institutioneller Maßstäbe ist einerseits eine defensive Strategie des Gerichts angesichts der gestörten Möglichkeiten des Machtwechsels. Sie ist andererseits aber gerade die Konstitutionalisierung des großkoalitionären Regierungsmodus, der die Unterscheidung von Politik und Verwaltung, von Mehrheit und Minderheit systematisch eliminiert. In einem Regierungssystem, dessen Institutionen und Verfahren nicht zu verstehen sind ohne die Bedeutung, die ihnen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt, ist das ein Vorgang von großer Tragweite.
The article provides a contextual analysis of the German Federal Constitutional Court’s jurisprudence since the 2009 landmark ruling on the Lisbon Treaty. In key fields such as European integration, electoral rules, parliamentary procedure, parliamentary control, taxation, or civil service law, the Court has broken new ground in recent years. The article argues that these changes reflect a more fundamental transformation of the German political system in the era of grand coalitions under Angela Merkel since 2005. With the place of parliamentary opposition largely vacant, the Court has been increasingly inclined to tighten its constitutional review of the rules of the political process. On the other hand, however, its new approach has precisely entrenched the mode of governing brought about by the grand coalitions, which eliminates the distinction between both politics and administration, majority and minority. In the German constitutional order, whose institutions and procedures are deeply shaped by the unique powers of the Constitutional Court, this represents a particularly momentous transformation.