Die Alltagsrealität, dass gewisse Patienten immer noch unzufrieden sind, obwohl alles getan worden ist, was die Schulmedizin bereithält, zwingt zu einer Auseinandersetzung mit unseren Denkmodellen. Das chirurgische Handeln basiert auf den Kausalgesetzen von Newton und Galilei und wird vom Prinzip von Ursache und Wirkung dominiert. Heilung müsste in diesem Modell als Umkehr der Pathogenese oder der linearen Kausalkette verstanden werden. Wissenschaftstheoretische Erkenntnisse dieses Jahrhunderts zeigen, dass biologische Heilungsvorgänge kybernetischen Gesetzen und den Prinzipien der Semiotik (Zeichenlehre) unterliegen. Es bestehen funktionale und keine kausalen Zusammenhänge zwischen den Ebenen Organ (Schädigung), Individuum (Fähigkeitsstörung) und Gesellschaft (Benachteiligung, Handicap). Dieses WHO-Modell der ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) liefert die Grundlage für das Management der chronischen Erkrankungen. Einschätzung des Schweregrades in drei Ebenen: Die Beispiele aus der täglichen Praxis zeigen bald einmal, dass gesundheitliche Störungen, die Krankheitsfolgemanifestationen, sinnvollerweise einer unabhängigen Einschätzung des Schweregrades in den drei Ebenen bedürfen. Chirurgische Interventionen finden auf Organebene statt, Nutzen (Evidenz) zeigt sich vornehmlich auf der mittleren Ebene Individuum. Die Beurteilung und der Einbezug der sensorischen Schädigung (sensory impairment), bedingt durch Lebensumstände und Lebensereignisse, und die Einschätzung der psychosozialen Resistenzlage tragen dazu bei, eine ungünstige Übereinstimmung zwischen dem Schweregrad der Organschädigung und der Fähigkeitsstörung besser zu verstehen und die Operationsindikation "patientenorientiert" auszurichten. Evidenz von Interventionen - patientenorientierte Chirurgie: Das MARA-Modell (mean age related ability) kann mit Bezug auf den mittleren, altersabhängigen Fähigkeitsverlust die Veränderungen der Fähigkeiten erfassen und als Grundlage für die Evidenz von Interventionen (Operationen) dienen. Das MARA-Modell ist Ausdruck der Integration des semiotischen Denkens in das weiterhin gültige und unentbehrliche Kausaldenken. Es berücksichtigt die individuelle Wirklichkeit und stützt sich auf die drei Pfeiler ICIDH, Bedürfnishierarchie und Salutogenese ab. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen "Kausalfaktoren" (Zusammenhänge), deren prädiktive Werte erst allmählich berücksichtigt und berechnet werden, können erstaunliche Evidenz-Erfahrungen bewirken. Letztlich sind viele Missverständnisse in gesundheitsökonomischen und politischen Diskussionen auf die mangelhafte Unterscheidung zwischen Krankheiten und Kranksein zurückzuführen.