Neue Terminologie für Sprachentwicklungsstörungen?
Zusammenfassung Hintergrund Sprachtherapeutisch-linguistische Fachkreise empfehlen die Anpassung einer von einem internationalen Konsortium empfohlenen Änderung der Nomenklatur für Sprachstörungen im Kindesalter, insbesondere für Sprachentwicklungsstörungen (SES), auch für den deutschsprachigen Raum. Fragestellung Ist eine solche Änderung in der Terminologie aus ärztlicher und psychologischer Sicht sinnvoll? Material und Methode Kritische Abwägung der Argumente für und gegen eine Nomenklaturänderung aus medizinischer und psychologischer Sicht eines Fachgesellschaften- und Leitliniengremiums. Ergebnisse Die ICD-10-GM (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification) und eine S2k-Leitlinie unterteilen SES in umschriebene SES (USES) und SES assoziiert mit anderen Erkrankungen (Komorbiditäten). Die USES- wie auch die künftige SES-Definition der ICD-11 (International Classification of Diseases 11th Revision) fordern den Ausschluss von Sinnesbehinderungen, neurologischen Erkrankungen und einer bedeutsamen intellektuellen Einschränkung. Diese Definition erscheint weit genug, um leichtere nonverbale Einschränkungen einzuschließen, birgt nicht die Gefahr, Kindern Sprach- und weitere Therapien vorzuenthalten und erkennt das ICD(International Classification of Disease)-Kriterium, nach dem der Sprachentwicklungsstand eines Kindes bedeutsam unter der Altersnorm und unterhalb des seinem Intelligenzalter angemessenen Niveaus liegen soll, an. Die intendierte Ersetzung des Komorbiditäten-Begriffs durch verursachende Faktoren, Risikofaktoren und Begleiterscheinungen könnte die Unterlassung einer dezidierten medizinischen Differenzialdiagnostik bedeuten. Schlussfolgerungen Die vorgeschlagene Terminologie birgt die Gefahr, ätiologisch bedeutsame Klassifikationen und differenzialdiagnostische Grenzen zu verwischen und auf wertvolles ärztliches und psychologisches Fachwissen in Diagnostik und Therapie sprachlicher Störungen im Kindesalter zu verzichten.