Ethische Probleme in der klinischen Praxis der evidenzbasierten Medizin
Ethische Konsequenzen der evidenzbasierten Medizin (EBM) sind bisher selten diskutiert und untersucht. Wird EBM – wie ursprünglich intendiert – als Versuch verstanden, Patienten individuell unter Berücksichtigung der persönlichen Wünsche und des situativen Kontextes auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Einsichten und Kenntnisse zu behandeln, so entspricht dieser Ansatz unmittelbar einem akzeptierten ärztlichen Ethos und scheint daher auch nicht weiter diskussionswürdig zu sein. Zwischen dem theoretischen Konzept und dem praktischen Gebrauch bzw. auch Missbrauch dieses Ansatzes existieren jedoch gravierende Unterschiede, die einer Betrachtung würdig sind. Denn gerade im praktischen Einsatz der EBM ergeben sich eine Reihe ethischer Probleme: EBM wird zunehmend zum Instrument der Ressourcenallokation. Auf der Basis klinischer Untersuchungen für streng definierte Patientengruppen wird der allgemeine Zugang zu medizinischer Versorgung reguliert und limitiert. Die Berufung auf eine externe Evidenz kann zudem in unmittelbarem Widerspruch zum Patientenwillen sein und zu Konflikten bei Therapieentscheidungen führen. Wenn nicht mehr der individuelle Patientenwille im Mittelpunkt der Therapieentscheidungen steht, sondern ein «Gemeinwohl» (also z.B. ein «wirtschaftliches Gesundheitssystem»), wird das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt untergraben. Der utilitaristische und mehr im anglikanischen Gedankengut verbreitete Ansatz des «Primats des Allgemeinwohls» wird durch die aktuelle Interpretation und Anwendung der EBM favorisiert, was im Widerspruch zum Bild des Arztes als Anwalt des individuellen Patienten steht. Dieses Bild des Verhältnisses von Arzt und Patient ist jedoch die Basis des ärztlichen Ethos im mitteleuropäischen Raum.