Über das Abhängigkeitspotential von Gabapentinoiden
ZusammenfassungDie Verschreibungshäufigkeit der Gabapentinoide Gabapentin und Pregabalin hat in den letzten 10 Jahren auch in Deutschland stark zugenommen. Insbesondere Warnungen aus mehreren nationalen und internationalen Pharmakovigilanz-Registern sowie der Handel von Gabapentoiden auf Schwarzmärkten und im Internet haben zu einer anhaltenden Debatte über das Gefährdungs- und Abhängigkeitsrisiko dieser Substanzen geführt. Da klinische Zulassungsstudien bisher keine bedeutsamen Hinweise auf eine Abhängigkeitsentwicklung zeigten, haben wir systematisch in PubMed und Scopus nach Kasuistiken und klinischen Studien zu Missbrauch und Abhängigkeit von Gabapentin und Pregabalin gesucht. Wir fanden 14 klinisch-epidemiologische Studien und 38 Kasuistiken. Diese wurden durchsucht nach Hinweisen auf i) erfüllte Abhängigkeitskriterien nach ICD-10, ii) nicht-medizinische Einnahmen und deren Dauer, iii) Rückfälle, iv) soziale Folgeschäden und v) Fälle mit Behandlung wegen eines nicht-medizinischen Konsums von Gabapentinoiden. Missbrauch und Abhängigkeit von Gabapentinoiden waren regelhaft assoziiert mit anderen Substanzabhängigkeiten, meistens mit Opiatabhängigkeit oder Politoxikomanie. Drogenabhängige bevorzugten Pregabalin wegen einer schnelleren und stärkeren Euphorisierung („liking“) als mit Gabapentin oral möglich. Beide Gabapentinoide sind in therapeutischen Dosen anxiolytisch, in geringeren Dosen stimulierend und in höheren Dosen sedierend. Todesfälle sind primär bei Opiatabhängigen und Politoxikomanen hauptsächlich im Zusammenhang mit massiven Pregabalin-Überdosierungen beschrieben worden. Noch ist umstritten, ob Gapapentinoide hier eine tragende kausale Rolle spielten oder eher weniger gefährliche „Mitläufer“ waren. Toleranzentwicklung und Entzugssymptome (körperliche Abhängigkeit) sind häufig verbunden mit dem medizinischen und nicht-medizinischen Gebrauch von Gabapentin oder Pregabalin. Es konnten nur 4 Fälle mit psychischen Abhängigkeitssymptomen (ausschließlich von Pregabalin) identifiziert werden, die keine Verbindung zu Missbrauch und Abhängigkeit von anderen Substanzen hatten (mit Ausnahme von Nikotin). Unter Berücksichtigung der Häufigkeit des Übertrittes von ärztlichen Verschreibungen zu nicht-medizinischen Einnahmen, der Häufigkeit und Dauer dieser Selbsteinnahmen sowie der Anzahl von beschriebenen Rückfällen kann Pregabalin als stärker abhängigkeitserzeugend gelten als Gabapentin. Allerdings waren solche Ereignisse eher selten im Vergleich zu denen bei Gebrauch von traditionellen psychoaktiven Drogen. Schließlich konnten keine Berichte über soziale Folgeschäden durch einen medizinischen oder nicht-medizinischen Gabapentinoid-Konsum oder behandlungssuchende Gabapentinoid-Konsumenten gefunden werden. Deshalb kann ein geringeres „wanting“ von Gabapentinoiden im Vergleich zu traditionellen psychoaktiven Substanzen vor dem Hintergrund von Berridgeʼs und Robinsonʼs Anreiz-Sensiblisierungs-Theorie zur Pathogenese von Abhängigkeitserkrankungen angenommen werden. Auch wird die Möglichkeit einer anti-adversen Selektion von Gabapentinoiden bei Opioidabhängigen und Abhängigen von anderen Drogen diskutiert. Abschließend schätzen wir das relative Abhängigkeitsrisiko von Gabapentin und Pregabalin anhand eines Algorithmus ein, der ursprünglich von Griffith und Johnson zur Bestimmung des Abhängigkeitsrisikos von Sedativa entwickelt wurde. In der Bilanz erscheint das Gefährdungs- und Abhängigkeitspotential der Gabapentinoide geringer als das von anderen Sedativa (und Stimulantien). Im Vergleich zu Gabapentin scheint Pregabalin stärker addictogen zu wirken. Wenn nicht ohnehin vermeidbar, sollten beide Gabapentinoide bei Risikopopulationen wie Suchtpatienten nur unter engmaschiger Kontrolle ihrer therapeutischen Wirksamkeit und Überwachung der Verschreibungen über einen begrenzten Zeitraum eingesetzt werden.