Überdiagnostik – Risiken und Gefahren

2016 ◽  
Vol 73 (11) ◽  
pp. 695-700
Author(s):  
Dieter Conen

Zusammenfassung. Traditionell stellen Anamneseerhebung mit genauer Charakterisierung der Symptome und klinische Untersuchung die Grundlage der Diagnostik dar. Die rasche technologische Entwicklung sowohl bei den labortechnischen als auch bei den bildgebenden Verfahren haben die diagnostischen Möglichkeiten dramatisch verändert und den Druck, jedem Symptom eine fassbare Diagnose zuzuordnen, erhöht. Krankheiten insbesondere maligne Leiden sollen bei Screeninguntersuchungen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt entdeckt und entsprechend behandelt werden, unabhängig davon, ob der so diagnostizierte Tumor tatsächlich zum Tode führt oder nur ein indolenter Tumor ist. Parallel dazu haben sich die Interventionsmöglichkeiten erhöht, die den Einsatz der therapeutischen Optionen bei symptomatischen Personen ebenso möglich macht wie bei asymptomatischen. Das führt zu einem Verwischen der Grenzen zwischen Gesundheit, vorhandenem Risiko für eine Erkrankung und der Krankheit selbst. Diese Entwicklungen werden durch Überdiagnostik gefördert, die dadurch definiert ist, dass bei asymptomatischen Personen oder bei Personen mit uncharakteristischen Beschwerden Diagnosen gestellt werden, die in der Regel keine Symptome machen oder gar zum Tode führen. Die Überdiagnostik als Ursache einer «modernen Epidemie». Die Ursachen der Überdiagnostik liegen in der technologischen Entwicklung, in der Technikgläubigkeit, in der irrigen Vorstellung absolute diagnostische Sicherheit sei möglich, in einer defensiven Medizin, die einerseits aus medikolegalen Gründen andererseits aus übertriebener Sorge, eine Diagnose zu verpassen, zur Überdiagnostik führt. Im weiteren kann sie begünstigt werden durch die Vorstellung, dass negative Testergebnisse besorgte Patienten beruhigen können. Falsch gesetzte Anreize können ebenso zur Überdiagnostik beitragen, wie mangelndes Wissen über Sensitivität und Spezifität verschiedener Tests und die Wahrscheinlichkeit für das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen einer bestimmten Diagnose in einem konkreten klinischen Setting. Massnahmen, die Überdiagnostik zu reduzieren, werden diskutiert.

2000 ◽  
Vol 20 (01) ◽  
pp. 22-25
Author(s):  
M. Aschwanden ◽  
K.-H. Labs ◽  
K. A. Jäger

ZusammenfassungDie mögliche Lungenembolie und das postthrombotische Syndrom als Komplikationen der falsch-negativen Thrombosediagnostik sowie das Blutungsrisiko bei falsch-positivem Befund unterstreichen weiterhin die Bedeutung der Diagnostik bei Bein- und Beckenvenenthrombose (TVT). Da die klinische Untersuchung alleine nicht ausreicht, wurden nicht-invasive Techniken wie die CW-Doppler-Sonographie und die Plethysmographie entwickelt. Ihre Treffsicherheit ist beim symptomatischen Patienten mit proximaler Thrombose ausreichend, nicht jedoch bei distaler oder asymptomatischer Thrombose. Die Ultraschalldiagnostik wird als B-Bild-Kompressionssonographie mit punktueller Untersuchung inguinal und popliteal durchgeführt. Daneben bietet sich die eigentliche Duplexsonographie mit weitergehender Analyse der Doppler-Spektren und allfälliger Farbkodierung an. Bei Verdacht auf proximale TVT sollte ein geschulter Untersucher mindestens eine Sensitivität und Spezifität sowie PPV und NPV von 97% erzielen. Die Treffsicherheit ist geringer bei isolierter Unterschenkelvenenthrombose und vor allem beim Screening. Das rationelle Zusammenspiel von strukturierter klinischer Untersuchung und D-Dimer-Test ermöglicht neuerdings vor der Ultraschalldiagnostik eine klare Bewertung der Thrombosewahrscheinlichkeit. Gemeinsam erlauben sie bei etwa einem Drittel der Patienten bereits den Ausschluß der TVT. Angesichts der geringen Prävalenz von 25-30% bei den wegen TVT-Verdacht Untersuchten erweist sich dieses Vorgehen als kosteneffizient.


2006 ◽  
Vol 63 (7) ◽  
pp. 471-474 ◽  
Author(s):  
Russi

Obwohl die Sensitivität und Spezifität pulmonaler Untersuchungsbefunde in der Diagnostik von Lungenerkrankungen alles andere als optimal sind und die Test-Charakteristika gewisser Befunde nie systematisch untersucht wurden, ist die klinische Untersuchung unerlässlich. Immer wieder können diagnostisch eindeutige und wegweisende Befunde erhoben werden. Zudem wird durch eine präzise Anamnese und eine gründliche Untersuchung das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt gefördert, was in einer Zeit der zunehmend apparativ geprägten Medizin nicht vernachlässigt werden darf.


2003 ◽  
Vol 31 (01) ◽  
pp. 17-22
Author(s):  
I. Schneider ◽  
H. Neu ◽  
M. Schneider

ZusammenfassungZiel der Studie war, die Exaktheit der konventionellen Untersuchungsverfahren (klinische Untersuchung, Elektrokardiographie und Röntgenuntersuchung) in der Diagnostik von kongenitalen Herzerkrankungen des Hundes zu prüfen. Eine Gesamtzahl von 132 Junghunden (≤ 2 Jahre) mit dem Verdacht auf eine kongenitale Herzerkrankung wurde in diese dreijährige Studie aufgenommen. Anhand von Anamnese, klinischer Untersuchung, Elektrokardiogramm-Auswertung und Röntgenuntersuchung wurden eine oder mehrere Herzmissbildungen diagnostiziert bzw. ausgeschlossen. Diese Resultate wurden mit den Ergebnissen einer echokardiographischen und Doppler-echokardiographischen Untersuchung verglichen. Bei 24/132 Hunden war keine Missbildung vorhanden. Die Sensitivität und Spezifität für den sicheren Ausschluss einer Missbildung mittels der konventionellen Untersuchungsverfahren war 8% bzw. 100%. Bei 108 Hunden wurden mittels Ultraschall insgesamt 132 kongenitale Defekte festgestellt. Von diesen wurden 86 (65%) in der konventionellen Untersuchung richtig erkannt und 46 (35%) übersehen. Bei 15 Fällen wurde eine falsche Diagnose gestellt. Die häufigsten Missbildungen und die Sensitivität bzw. Spezifität der konventionellen Untersuchung waren: Aortenstenose, 53 Fälle (77% bzw. 89%); Pulmonalstenose, 42 Fälle (43% bzw. 100%); persistie-render Ductus arteriosus, 17 Fälle (100% bzw. 100%) und Mitralklappendysplasie mit Insuffizienz, neun Fälle (33% bzw. 98%). Korrekt erkannt wurden bei den weniger häufigen Missbildungen zwei von vier Trikuspidalklappendysplasien mit Insuffizienz, zwei von vier Atriumseptumdefekten, zwei von zwei Ventrikelseptumdefekten, eine von einer Fallot-Tetralogie sowie null von einer Mitralklappendysplasie mit Stenose.


2006 ◽  
Vol 63 (5) ◽  
pp. 333-337
Author(s):  
Weber

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist die dritthäufigste Tumorerkrankung in den industrialisierten Ländern. Mortalität und Inzidenz des Kolonkarzinoms können durch Screeningverfahren effektiv gesenkt werden. Vor dem Screening muss der Risikostatus des Patienten erfasst werden. Für Personen ohne Risikofaktoren ist ein KRK-Screening ab dem 50. Lebensjahr sinnvoll. Abhängig von der individuellen Situation des Patienten sind mehrere Screeningverfahren möglich. Die vollständige Koloskopie bietet die höchste Sensitivität und Spezifität zur Detektion von Adenomen und Karzinomen im Colon und sollte daher primär angeboten werden. Alternativ sind die Sigmoidoskopie und der Test auf okkultes Blut möglich. Trotz vielversprechender Entwicklungen auf dem Gebiet der Schnittbildverfahren kann die virtuelle Koloskopie aktuell nicht zum Screening empfohlen werden.


2000 ◽  
Vol 57 (2) ◽  
pp. 59-61
Author(s):  
Schöpf

Eingangs wird die Wichtigkeit betont, Depressionen in der klinischen Praxis festzustellen. Der Autor weist auf die moderne Diagnostik mit operationalisierten Kriterien hin und zeigt Schwierigkeiten auf, die sich bei der Diagnosestellung ergeben können. Besonders atypische Symptome und komorbide psychische Störungen können dazu führen, daß das depressive Syndrom übersehen wird. Gelegentlich bleibt es unsicher, ob eine Depression vorliegt oder nicht. In solchen Fällen soll man im allgemeinen eine Depressionsbehandlung versuchen.


2018 ◽  
Vol 75 (4) ◽  
pp. 199-207
Author(s):  
Raphaël Tamò ◽  
Marianne Rohrbach ◽  
Matthias Baumgartner ◽  
Felix Beuschlein ◽  
Albina Nowak

Zusammenfassung. Lysosomale Speicherkrankheiten (LSK) sind eine Gruppe von über 50 hereditären Erkrankungen, welche durch eine gestörte lysosomale Funktion charakterisiert sind. Das Lysosom fungiert als Recyclinganlage der Zelle. Der Grossteil der LSK wird durch einen Mangel an sauren Hydrolasen ausgelöst. Der gestörte Metabolismus führt dann zur Akkumulation komplexer Moleküle. Die klassische Einteilung der LSK orientiert sich an diesen Hauptspeichermolekülen und unterscheidet Sphingolipidosen (Glykosphingolipide), Mukopolysaccharidosen (Glykosaminoglykane) und Oligosaccharidosen (Oligosaccharide, Glykoproteine) (In Klammern jeweils das Hauptspeichermolekül). Die moderne Einteilung weitet den Begriff auf alle Erkrankungen aus, welche einen Defekt einer Komponente zeigen, die für die normale Funktion des Lysosoms nötig ist. Dies können lysosomale Membranproteine, Aktivatorproteine, Transportproteine oder nicht-lysosomale Proteine sein. Mit einer gemeinsamen Inzidenz von etwa 16 Fällen pro 100’000 Lebendgeburten sind die LSK insgesamt seltene Erkrankungen. Ergebnisse aus Screening-Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass die Inzidenz unter Lebendgeburten unterschätzt wird. Die häufigsten LSK sind die beiden Sphingolipidosen Morbus Gaucher und Morbus Fabry. Die Gemeinsamkeiten der LSK bezüglich ihrer Symptomatik sind die systemischen Manifestationen und die häufige zerebrale Beteiligung. Die Ausprägung der Symptome ist innerhalb der Erkrankungen sehr unterschiedlich. Die pathophysiologischen Prozesse sind vielfältig und nicht durch blosse Überladung und konsekutiven Untergang der Zelle bedingt. Therapeutisch sind verschiedene Angriffspunkte vorhanden: die Substitution der Enzyme mittels Enzymersatztherapie, die Gentherapie oder hämatopoetischen Stammzelltransplantation, die Stabilisierung der defekten Enzyme durch pharmakologische Chaperone sowie die Verringerung der Substrate durch Substratreduktionstherapie.


2005 ◽  
Vol 36 (4) ◽  
pp. 215-225 ◽  
Author(s):  
Birte Englich
Keyword(s):  

Zusammenfassung: Ausgehend von bisherigen Befunden zu Ankereffekten in der richterlichen Urteilsbildung sowie dem Modell selektiver Zugänglichkeit untersucht die vorliegende Studie, inwieweit auch parteiische Zwischenrufe im Gerichtssaal einen Einfluss auf strafrechtliche Entscheidungen haben können. In einem 2 × 2-faktoriellen Experiment lasen 177 RechtsreferendarInnen vollständige und realistische Materialien zu einem Vergewaltigungsfall, bei dem ein offensichtlich parteiischer Zwischenrufer aus dem Zuschauerraum eine niedrige oder hohe Strafe forderte. Je nach Versuchsbedingung wurden die UntersuchungsteilnehmerInnen gebeten oder nicht, sich kurz mit dieser Zwischenruferforderung zu beschäftigen. Zentrale abhängige Variable war die richterliche Strafzumessung in Monaten. Die Ergebnisse belegen einen deutlichen Ankereffekt der parteiischen Zwischenruferforderung auf die richterliche Entscheidungsfindung. Notwendige Voraussetzung für diesen Einfluss war hierbei eine Beschäftigung mit der irrelevanten Zahlenvorgabe. Dieses Ergebnis wird anhand des Modells selektiver Zugänglichkeit interpretiert. Chancen und Grenzen der Korrektur solcher Ankereffekte irrelevanter Forderungen im Gerichtssaal werden beleuchtet.


2010 ◽  
Vol 67 (7) ◽  
pp. 359-366
Author(s):  
Nicole Bürki

Immer mehr Frauen erkranken bereits in jungen Jahren an einem Mamma- oder Ovarialkarzinom. Die GynäkologInnen und HausärztInnen sehen sich somit zunehmend mit der Frage konfrontiert, ob bei einer ihrer PatientInnen eine genetische Prädisposition dafür vorliegt oder nicht. Sie stellen die Weichen für eine genetische Beratung und tragen wesentlich zur Erfassung und Betreuung von HochrisikopatientInnen bei. In dieser Review wird die molekulare Basis des hereditären Mamma- und Ovarialkarzinoms mit Mutationen vorzugsweise im BRCA1 und BRCA2-Gen beschrieben und dabei die Problematik der unterschiedlich hohen Penetranz aufgezeigt. Es wird dargelegt, welche Aspekte der persönlichen Anamnese und der Familienanamnese in die Risikoeinschätzung für das Vorliegen einer Genmutation einfließen und wie diese erfolgt. Kriterien, nach denen eine Zuweisung zur genetischen Beratung indiziert ist, werden präsentiert. Zudem werden Themen aufgezeigt, die in der genetischen Beratung vor und nach einer Gentestung diskutiert werden sollten. Schlussendlich wird darauf eingegangen, welche Maßnahmen einer Frau mit nachgewiesener BRCA1 oder BRCA2-Mutation zur Reduktion ihres Karzinomrisikos angeboten werden können, nämlich: Früherkennung, Chemoprävention und prophylaktisch chirurgische Maßnahmen. Kurz wird auch auf die empfohlenen Screeningmaßnahmen bei einem Mann mit einer nachgewiesenen Mutation eingegangen.


2016 ◽  
Vol 73 (4) ◽  
pp. 183-188
Author(s):  
Paul Kessler

Zusammenfassung: Die Anamnese ist bei Patienten, die unter Schwindel und Gleichgewichtsproblemen leiden, weiterhin das wichtigste Instrument. Sie umfasst Art, Richtung, Dauer, Schwere und beeinflussende Faktoren des Schwindels sowie otologische und neurologische Begleitsymptome. Eine Einteilung in a)akuten anhaltenden Schwindel, b)episodischen Schwindel unter Einbezug der Positionsabhängigkeit und c)chronisch anhaltenden Schwindel erlaubt bereits eine erste diagnostische Unterteilung. Die klinische Untersuchung umfasst eine Hals-Nasen-Ohren- sowie eine neurologische Untersuchung. Spezielles Augenmerk ist hierbei auf Okulomotorik, Nystagmusprüfung, Kopfimpulstest, Koordinationsprüfung, Geh-/Stehversuche und die Lagerungsprüfung zu richten. An apparativen Untersuchungen sind Orthostasetestung, Tonaudiogramm, kalorische Prüfung, Video-Kopfimpulstest und bei speziellen Fragestellungen Video-Nystagmographie und die Ableitung vestibulär-evozierter Muskelpotentiale hilfreich. Oft muss trotz aller funktionellen Diagnostik eine Magnetresonanztomografie des Neurokraniums hinzugefügt werden. In manchen Fällen empfiehlt sich ein multidisziplinärer Abklärungsgang. Die Therapie kann physikalische Massnahmen wie Repositionsmanöver oder vestibuläres Training, Pharmaka oder chirurgische Massnahmen beinhalten, wobei die Evidenzsituation einiger gängiger Therapien zu wünschen übrig lässt.


2013 ◽  
Vol 70 (7) ◽  
pp. 399-402
Author(s):  
Olivier Pittet ◽  
Nicolas Demartines ◽  
Dieter Hahnloser

Anale Schmerzen sind häufig in der Proktologie. Eine detaillierte Anamnese der Schmerzen und die klinische Untersuchung führen meistens zur Diagnose und damit zur unmittelbaren Therapie. Die akute Perianalvenenthrombose soll innerhalb 72 Stunden exzidiert werden. Akute Analfissuren werden konservativ mit Stuhlregulation und sphinktertonus-senkender Medikation sehr erfolgreich therapiert. Die chronische Analfissur muss meistens operiert werden. Perinalabaszesse können häufig in Lokalanästhesie abgedeckelt werden. Die proctalgia fugax und das levator ani syndrome sind Auschlussdiagnosen und werden symptomatisch therapiert.


Sign in / Sign up

Export Citation Format

Share Document