Die psychische Befindlichkeit übergewichtiger Kinder
Zusammenfassung: Fragestellung: Zahlreiche Elternbefragungen belegen, dass übergewichtige Kinder neben somatischen Folgen vielfältigen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind. Standardisierte Interviews zur Erhebung klinischer Diagnosen nach DSM-IV an übergewichtigen Kindern und direkte Kinderbefragungen fehlen bisher jedoch weitgehend. Methodik: Psychische Auffälligkeiten einer Inanspruchnahmepopulation übergewichtiger 8-12-jähriger Kinder (N = 59) wurden mittels eines strukturierten Interviews (Kinder-DIPS) im Kind- und Elternbericht untersucht. Weiter wurde mit den verfügbaren Daten (N = 55) der Child Behavior Checklist (CBCL) dieser klinischen Stichprobe ein Kontrollgruppenvergleich mit einer repräsentativen Stichprobe (n = 1080) vorgenommen. Schließlich wurde bei der Untergruppe der 10-12-jährigen Kinder ein Vergleich zwischen der klinisch vorgestellten übergewichtigen Sub-Stichprobe (N = 33) mit der Gruppe übergewichtiger Kinder (N = 34) sowie der Gruppe normalgewichtiger Kinder einer geschlechtsparallelisierten repräsentativen Stichprobe (N = 386) durchgeführt. Ergebnisse: Bei 23 Kindern (39.0%) der klinischen Stichprobe wurde eine psychische Störung nach DSM-IV festgestellt. Ca. ein Drittel (N = 19, 34.5%) erfüllte die Forschungskriterien für eine Binge-Eating-Disorder (BED). Übergewichtige 8-12-jährige Kinder der klinischen Stichprobe wiesen im Vergleich zur geschlechts- und altersparallelisierten Kontrollstichprobe in der Child Behavior Checklist (CBCL) signifikant höhere Werte in 6 der 8 Syndromskalen auf. Ferner waren die Werte für internalisierende und externalisierende Probleme sowie der Gesamtwert im Vergleich signifikant erhöht. Die übergewichtigen 10-12-jährigen Kinder der klinischen Stichprobe hatten im Vergleich zu den übergewichtigen Gleichaltrigen der repräsentativen Stichprobe bei der CBCL-Primärskala «soziale Probleme» und beim CBCL-Gesamtwert signifikant höhere Werte; nach Korrektur für BMI ergab sich keine Signifikanz mehr für den Gesamtwert. Innerhalb der repräsentativen Stichprobe hatten die übergewichtigen 10-12-jährigen Kinder bei den CBCL-Syndromskalen «soziale Probleme» und «dissoziales Verhalten» signifikant höhere Werte als ihre normalgewichtigen Gleichaltrigen. Schlussfolgerungen: Über ein Drittel der klinischen Stichprobe übergewichtiger Kindern weist psychische Störungen auf. Für übergewichtige Kinder aus der Normalbevölkerung ergeben sich Hinweise auf eine leicht erhöhte Prävalenz psychischer Auffälligkeiten in der CBCL. Übergewichtige Kinder, die sich für eine Behandlung melden, stellen somit eine hoch belastete Patientengruppe dar, die mehrdimensional behandelt werden sollte. Dabei ist ein Umdenken in der Behandlung übergewichtiger und adipöser Kinder von der prioritären Umstellung von Ess- und Bewegungsverhalten hin zu einer umfassenden Prävention von Chronifizierung und Entstehung komorbider psychischer Störungen und deren Behandlung erforderlich.